Mai 2024

Derzeit befinde ich mich in einem finanziellen Engpass, weshalb ich bei meinem Arbeitgeber nach einem Vorschuss gefragt habe. Der Arbeitgeber meinte jedoch, er könne mir unter keinen Umständen einen Vorschuss gewähren; vielmehr hätte ich die übliche Lohnzahlung abzuwarten. Darf mir der Arbeitgeber einen Lohnvorschuss in allen Fällen verweigern?

Art. 323 Abs 4 OR hält fest, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer nach Massgabe der geleisteten Arbeit einen Vorschuss zu gewähren hat, dessen der Arbeitnehmer infolge einer Notlage bedarf und den der Arbeitgeber billigerweise zu gewähren vermag. Folglich steht Ihnen ein entsprechender Anspruch zu, sofern die vorbeschriebenen Voraussetzungen erfüllt sind. Was bedeutet dies nun aber konkret?

Der Anspruch setzt eine Notlage des Arbeitnehmers voraus. Dabei ist es gleichgültig, ob der Arbeitnehmer diese selbst verschuldet hat oder nicht. Was unter einer solchen Notlage genau zu verstehen ist, beschreibt das Gesetz nicht. Dabei dürfte beispielsweise an Situationen zu denken sein, in welchen sich der Arbeitnehmer aufgrund nicht versicherungsgedeckter ausserordentlicher Mehrkosten nicht mehr selbst zu finanzieren vermag. Oder zum Beispiel auch, wenn der Arbeitnehmer aufgrund spezieller Umstände die für seine Kinder zu leistenden Alimente nicht mehr aufbringen kann. Die Vorschusspflicht besteht immer nur so weit, als es zur Deckung der Notlage erforderlich ist. Zudem setzt das Gesetz explizit eine weitere Grenze: Die Vorschusspflicht ist nämlich auch dahingehend begrenzt, als die Höhe des Vorschusses maximal der bis dahin geleisteten Arbeit bzw. des dadurch aufgelaufenen Lohnes entsprechen muss.

Einzig, wenn dem Arbeitgeber die Bevorschussung aus wirtschaftlichen Gründen unzumutbar ist, kann er – entgegen der grundsätzlichen Pflicht – die Leistung eines Vorschusses ablehnen. Im Geschäftsalltag dürfte dies aber wohl kaum je der Fall sein, da der Arbeitgeber in den ganz überwiegenden Fällen über die nötigen Mittel verfügen dürfte. Natürlich ist es dem Arbeitgeber auch freigestellt, einen höheren Vorschuss zu leisten – nur besteht im darüber hinausgehenden Rahmen keine Verpflichtung mehr.

Handelt es sich folglich um eine entsprechende Notsituation, die Sie finanziell nicht anders bewältigen können, und besteht zudem ein Soll an zu vergütender Arbeitsleistung, wird Ihnen der Arbeitgeber grundsätzlich einen Vorschuss ausrichten müssen.

Samuel Egli
s.egli@frickerseiler.ch