Das sagt der Richter

Unter der Rubrik «Das sagt der Richter» stellen wir Ihnen kurz und prägnant neuste kantonale und eidgenössische Gerichtsentscheide vor: informativ, anregend, kurios – für alle etwas.

2022

Urteil Bundesgericht vom 3. Dezember 2021

Verfalldatum für Verwaltungsräte

Das Bundesgericht hatte sich in einem Entscheid vom 3. Dezember 2021 mit einer Aktiengesellschaft mit Sitz in der Schweiz zu befassen, die 2017 als Joint Venture einer anderen Schweizer Gesellschaft und zweier chinesischer Geschäftsleute gegründet worden war, um Geschäfte in der Volksrepublik China zu betreiben. Im Rahmen der Gründung waren vier Verwaltungsräte gewählt worden.

Das Obligationenrecht hält in Art. 710 zur Amtsdauer von Verwaltungsräten fest, die Mitglieder des Verwaltungsrates würden auf drei Jahre gewählt, sofern die Statuten nichts anderes bestimmten. Die Amtsdauer darf jedoch sechs Jahre nicht übersteigen, wobei die Wiederwahl unbeschränkt möglich ist. Gemäss Art. 699 Abs. 2 OR hat alljährlich eine ordentliche Generalversammlung der Aktionäre stattzufinden und zwar innerhalb von sechs Monaten nach Abschluss des Geschäftsjahres. 

Im zu beurteilenden Fall hatten seit der Gründung bloss zwei ausserordentliche Generalversammlungen der fraglichen Gesellschaft stattgefunden, nämlich im Juni 2017 und im April 2019. Damals waren die Mitglieder des Verwaltungsrates zuletzt im Amt bestätigt worden. Im April 2021 verlangte die Schweizer Aktionärin von der AG beziehungsweise deren Verwaltungsrat, unverzüglich einen ordentliche Generalversammlung einzuberufen und Informationen zum Geschäft zu liefern. Weil eine solche Einladung ausblieb, gelangte die Aktionärin schliesslich an das Handelsgericht des Kantons Zürich und verlangte unter anderem, es solle vom Gericht ein Sachwalter für die AG eingesetzt werden, bis deren Verwaltungsrat wieder korrekt gewählt worden sei. Das Handelsgericht hiess diesen Antrag gut. Dagegen gelangte die Aktiengesellschaft an das Bundesgericht. Dort war dann die Frage zu klären, ob die Verwaltungsräte auch nach Ablauf von sechs Monaten nach dem letzten Geschäftsjahr ihrer Amtszeit weiter im Amt blieben, wenn entgegen dem genannten Art. 699 Abs. 2 OR innert sechs Monaten nach Abschluss des Geschäftsjahres keine Generalversammlung durchgeführt worden ist oder die (Bestätigungs-) Wahl des Verwaltungsrates nicht erfolgte. 

Die Lehrmeinungen zu dieser Fragen waren bisher geteilt und das Bundesgericht hatte sich dazu bisher noch nie geäussert. Es hielt in seiner Urteilsbegründung fest, eine stillschweigende Fortsetzung des Verwaltungsratsmandates würde die unentziehbare Kompetenz der Generalversammlung unterlaufen, die Mitglieder des Verwaltungsrates zu wählen. Dies wäre umso stossender, wenn der Verwaltungsrat es unterlassen würde, eine Generalversammlung einzuberufen mit dem Ziel, das Amt über den Ablauf der Amtsdauer hinaus zu behalten. Gemäss diesem vom Bundesgericht gefassten Leitentscheid gilt also, dass nach Ablauf der Amtsdauer das Amt des Verwaltungsrates mit Ablauf des sechsten Monats nach Schluss des betreffenden Geschäftsjahres endet, wenn keine Generalversammlung durchgeführt oder die Wahl des Verwaltungsrates nicht traktandiert wurde. Dies gilt auch für den Fall, dass die Wahl des Verwaltungsrates zwar traktandiert wird, wegen eines Pattes unter den Aktionären aber keine Mehrheit zu Stande kommt. Offenbar war in den Statuten der fraglichen AG eine kürzere Amtsdauer des Verwaltungsrates von einem oder zwei Jahren fixiert. Folglich hatte die AG keine Verwaltungsräte mehr. 

Bundesgericht, I. zivilrechtliche Abteilung, Urteil 4A_496/2021 vom 3. Dezember 2021 (publiziert als BGE 148 III 69)
 

Roger Seiler
r.seiler@frickerseiler.ch

Urteil Bundesgericht vom 30. Juni 2021

Aktienkurse börsenkotierter Gesellschaften sind nicht gerichtsnotorisch

Im Rahmen der güterrechtlichen Auseinandersetzung im Scheidungsverfahren zwischen den Ehegatten A und B bewertete das Bezirksgericht Muri das Aktiendepot des Ehemannes A mit den Aktienkursen per 8. Oktober 2018, wobei es sich auf die von der Ehefrau B anlässlich der Hauptverhandlung vom 16. Oktober 2018 eingereichte Aufstellung der Börsenkurse abstützte. Das Gericht wies das Depot im Betrag von CHF 1'353'478.00 der Errungenschaft von A zu. Dieser vertrat sowohl vor dem Bezirksgericht als auch vor Obergericht die Auffassung, das Aktiendepot hätte, gestützt auf die letzte Steuererklärung, mit CHF 773'120.00 (Wert per 31.12.2010) bewertet werden müssen. A gelangte deshalb an das Bundesgericht und stellte sich im bundesgerichtlichen Verfahren neu auf den Standpunkt, dass sowohl Devisen- als auch Aktienkurse von börsenkotierten Gesellschaften gerichtsnotorisch seien und deshalb nicht behauptet bzw. bewiesen werden müssten. Ihm dürfe deshalb nicht zum Nachteil gereichen, dass er im vorinstanzlichen Verfahren noch auf den Wert der Aktien im Jahr 2010 verwiesen habe. Richtigerweise hätte das Bezirksgericht sein Aktiendepot per Urteilsdatum (16. Oktober 2018) und nicht gemäss der Liste seiner Ehefrau per 8. Oktober 2018 bewerten müssen. Die Wertdifferenz zwischen den beiden unterschiedlichen Bewertungstagen bezifferte sich auf CH CHF 187'749.

Das Bundesgericht erinnert daran, dass Errungenschaft und Eigengut jedes Ehegatten nach ihrem Bestand im Zeitpunkt der Auflösung des Güterstandes ausgeschieden werden (Art. 207 Abs 1 ZGB). Massgebend für den Wert der Errungenschaft ist demgegenüber der Zeitpunkt der güterrechtlichen Auseinandersetzung (Art. 214 Abs 1 ZGB). Wird die güterrechtliche Auseinandersetzung im Rahmen eines Gerichtsverfahrens vorgenommen, so ist der Tag der Urteilsfällung oder ein diesem möglichst nahe gelegener Zeitpunkt massgebend.

Das Bundesgericht hatte sich bisher nicht mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob Aktienkurse börsenkotierter Gesellschaften als offenkundig und damit als gerichtsnotorisch zu gelten haben. Offenkundige Tatsachen bedürfen keines Beweisen (Art. 151 ZPO) und müssen auch nicht behauptet werden, so dass auf sie ohne weiteres abzustellen ist.

Für Wechselkurse, die den Aktienkursen börsenkotierter Gesellschaften am nächsten sind, hat die bundesgerichtliche Rechtsprechung die Offenkundigkeit bejaht, da Umrechnungskurse «von jedermann im Internet, in amtlichen Publikationen oder in der Presse kontrolliert» werden können. Aktienwerte von börsenkotierten Unternehmen seien, so das Bundesgericht, zwar ohne weiteres im Internet abrufbar, allerdings seien Aktienkurse starken Schwankungen ausgesetzt, dies auch innerhalb eines einzigen Tages. Es gäbe für vergangene Aktienkurse börsenkotierter Unternehmen mannigfache Quellen, die teilweise sogar geringfügig voneinander abweichende Werte auswiesen. Das Bundesgericht hat seine Rechtsprechung dahingehend präzisiert, das nicht jede im Internet verfügbare Information offenkundig sei, sondern nur solche, die leicht zugänglich seien, aus verlässlichen Quellen stammten und denen ein offizieller Anstrich anhafte. Weil es Aktienkursen börsenkotierter Unternehmen namentlich an einem offiziellen Anspruch mangle, seien sie nicht den offenkundigen Tatsachen zuzuordnen. Weil A für den massgebenden Zeitpunkt keine Aktienwerte behauptet habe, sei es angesichts der Dispositionsmaxime nicht zu beanstanden, dass das Obergericht in Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils die von B am 16. Oktober 2018 angegebenen Werte übernommen habe. Es erweise sich als bundesrechtskonform, wenn dem Entscheid Aktienkurse zugrunde gelegt wurden, die für einen wenige Tage vor dem Datum des Urteils liegenden Zeitpunkt galten.

 

Bundesgericht, I. zivilrechtliche Abteilung, Urteil 5A_1048/2019 vom 30. Juni 2021

Kurt Fricker
k.fricker@frickerseiler.ch

Urteil Bundesgericht vom 20. Mai 2022

Aufs Handy gestarrt und vom Tram erfasst

Am 20. Februar 2019 wurde in der Stadt Zürich ein Mann an einer Tramhaltestelle von einem Tram erfasst und dabei schwer verletzt. Vor der Kollision stand er an der Tramhaltestelle mit dem Rücken zum einfahrenden Tram. Er richtete dabei seinen Blick auf sein Mobiltelefon, bevor er völlig unvermittelt und ohne nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht, den Gleisbereich betrat und von einem Tram erfasst wurde. Der Unfall ereignete sich bei schönem Wetter und trockener Strasse auf einer geraden Strecke. Der Strassenverlauf erlaubte es den Fussgängern, herannahende Trams auch bei erhöhtem Verkehrsaufkommen von Weitem zu erkennen. Nach dem Unfall beantragte der verletzte Fussgänger von der Stadt Zürich eine Genugtuung.

Gemäss Art. 40b Abs. 1 Eisenbahngesetz (EBG) haftet der Inhaber eines Eisenbahnunternehmens für den Schaden, wenn die charakteristischen Risiken, die mit dem Betrieb der Eisenbahn verbunden sind, dazu führen, dass ein Mensch getötet oder verletzt wird oder ein Sachschaden entsteht. Er wird gemäss Art 40c EBG jedoch von seiner Haftpflicht entlassen, wenn ein Sachverhalt, der ihm nicht zugerechnet werden kann, so sehr zur Entstehung des Schadens beigetragen hat, dass er als dessen Hauptursache anzustehen ist. Als Beispiele nennt Art. 40c EBG höhere Gewalt (Abs. 2 lit. a) oder grobes Verschulden der geschädigten oder einer dritten Person (Abs. 2 lit. b). Dass sich die charakteristischen Risiken, die mit dem Betrieb von Trams verbunden sind, verwirklicht haben, war unbestritten. Strittig war jedoch, ob sich die Stadt Zürich mit Blick auf ein grobes Verschulden des Fussgängers von ihrer Haftpflicht befreien kann.

Sowohl das Bezirksgerichts Zürich als auch das Obergericht gelangten zur Auffassung, der Fussgänger habe sich zwar von seinem Mobiltelefon ablenken lassen, als er die Tramgeleise betreten hat. Jedoch könne ihm nicht vorgeworfen werden, dass er sich längere Zeit mit seinem Mobiltelefon beschäftigt habe. Zwar habe er gegen die Verkehrsregeln verstossen, indem er sich seinem Mobiltelefon gewidmet hat. Sein Verschulden wiege erheblich, aber nicht so schwer, dass die Betriebsgefahr, die vom Tram ausging, gänzlich in den Hintergrund gerückt würde. Das Bezirksgericht Zürich als Erstinstanz hielt weiter fest, heutzutage gehöre der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum städtischen Strassenbild. Das Mobiltelefon sei die Ablenkung unserer Zeit schlechthin. Ein solches Verhalten sei zwar unaufmerksam, jedoch sei heutzutage damit zu rechnen, dass über ihr Mobiltelefon gebeugte Fussgänger achtlos die Strasse beträten. Dieses Verhalten weiche nicht massgeblich vom zu erwartenden normalen Geschehen ab. 

Die Stadt Zürich gelangte ans Bundesgericht und beantragte die Aufhebung des Urteils des Obergerichts Zürich.

Das Bundesgericht führte in seinem Urteil aus, es sei nicht entscheidend, ob sich der Fussgänger während längerer Zeit mit seinem Mobiltelefon beschäftigte, als er sich im Stadtverkehr fortbewegte. Er hätte den Blick vom Mobiltelefon abwenden und nach allen Seiten richten müssen. Daran ändere nichts, dass der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum gewohnten alltäglichen städtischen Strassenbild gehören möge. Der Fussgänger sei ortskundig gewesen und die Gefahrensituation sei ihm ohne weiteres bewusst gewesen, wohne er doch nur 600 Meter von der Tramhaltestelle entfernt. Es könne nicht gesagt werden, dass jedem anderen verständigen Menschen in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen dasselbe hätte passieren können. Der Fussgänger habe die Gefahr völlig unnötig geschaffen, indem er seinen Blick auf das Mobiltelefon richtete, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne dabei nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Weiter führt das Bundesgericht aus, es habe nicht an der Stadt Zürich gelegen, die Tramhaltestelle besser zu sichern. Vielmehr hätte der Fussgänger ein Mindestmass an Sorgfalt walten lassen und zumindest kurz nach links blicken müssen, bevor er das Tramtrasse betreten hat.

Das Bundesgericht gelangte somit zum Schluss, das verkehrsregelwidrige Verhalten des Fussgängers erscheine als Hauptursache des Unfalls, weshalb die Voraussetzungen für eine Entlastung von der Haftpflicht nach Art. 40c EBG erfüllt seien. Die Beschwerde der Stadt Zürich wurde folglich gutgeheissen.

Bundesgericht, I. zivilrechtliche Abteilung, Urteil 4A_197/2021 vom 20. Mai 2022

Matthias Fricker
m.fricker@frickerseiler.ch

Urteil des Bundesgerichts vom 11. November 2020

Wie viele Streicheleinheiten braucht eine Katze?

Im vorliegenden Fall hatte sich das Bundesgericht mit der Beschwerde eines Katzenasyls gegen eine Verfügung des zuständigen Veterinäramtes zu befassen, worin das Tierheim verpflichtet worden war, sich täglich während mindestens 20 Minuten mit jeder einzelnen Katze abzugeben. Diese Auflage erachtete der Beschwerdeführer und Besitzer des Katzenasyls als willkürlich. Unter Beizug der einschlägigen Bestimmungen des Tierschutzgesetzes und der entsprechenden Verordnung, verneinte das Bundesgericht die Willkür. In materieller Hinsicht gab das höchste Gericht dem Beschwerdeführer jedoch zumindest teilweise recht und stellte fest, dass eine feste zeitliche Grenze von 20 Minuten nicht notwendig sei, um das im Tierschutzgesetz definierte Wohl der Katzen zu garantieren. Das Mass der sozialen Kontakte habe sich nach den individuellen Bedürfnissen des einzelnen Tieres zu richten. «Zwar ist davon auszugehen, dass die meisten Katzen den Kontakt zu den Menschen schätzen dürften, doch ist auch denkbar, dass einzelne Tiere dies nicht wünschen bzw. den Kontakt zu Artgenossen bevorzugen.», meinte das Bundesgericht und entschied, dass die entsprechende Auflage im angefochtenen Entscheid in diesem Sinne angepasst werden müsse.

Bundesgericht, II. öffentlich-rechtliche Abteilung, Urteil 2C_416/2020 vom 10. November 2020

Karin Koch Wick
k.koch@frickerseiler.ch