Das sagt der Richter
Unter der Rubrik «Das sagt der Richter» stellen wir Ihnen kurz und prägnant neuste kantonale und eidgenössische Gerichtsentscheide vor: informativ, anregend, kurios – für alle etwas.
2021
Entscheid des Bezirksgerichts Bremgarten vom 11. November 2021
Zulässigkeit einer Schiedsgerichtsklausel
Die Beklagten, Eheleute S., hatten die Klägerin, eine Generalunternehmerin, beauftragt, ihr neu zu erstellendes Einfamilienhaus zu planen, die gesamte Bauführung zu übernehmen und einzelne Arbeitsgattungen selber auszuführen. Die Parteien hatten miteinander einen Planer-/Bauleitungsvertrag abgeschlossen, auf der Basis eines Formularvertrages der Branchenorganisation der Klägerin.
Bei der Realisierung des Bauprojektes war es aus Sicht der beklagten Bauherren zu verschiedenen Fehlleistungen der Klägerin gekommen und diese hatte nach Überzeugung der Beklagten auch nicht alle vertraglich zugesicherten Arbeiten ausgeführt. Entsprechend weigerten sich die Beklagten, der Klägerin das gesamte Honorar gemäss Vertrag zu bezahlen.
Nach erfolglosen aussergerichtlichen Diskussionen und einer Verhandlung vor dem Friedensrichteramt reichte die Klägerin beim Bezirksgericht Bremgarten Klage gegen die Beklagten ein und verlangte die Zahlung des offenen Honorars nebst Verzugszins. Die Beklagten machten geltend, die Klägerin hätte die vereinbarten Arbeiten unsauber und unvollständig ausgeführt, so dass sie kein weiteres Honorar schuldeten. Darüber hinaus machten die Beklagten geltend, das angerufene Gericht sei zur Beurteilung der Streitsache gar nicht zuständig, weil die Parteien im schriftlichen Planer-/Bauleitungsvertrag vereinbart hätten, einen allfälligen Streit aus dem Vertrag einem Schiedsgericht zu unterbreiten. Entsprechend dürfe das staatliche Gericht auf die Angelegenheit gar nicht eintreten.
Das Gericht hat festgestellt, dass die Parteien im verwendeten und in der unterzeichneten Form von der Klägerin vorbereiteten Formularvertrag zur Frage des zuständigen Gerichtes mit zwei Formularkästchen die Auswahl hatten zwischen der Bezeichnung des ordentlichen Gerichtes und derjenigen des Schiedsgerichtes des entsprechenden Branchenverbandes. Angekreuzt war im Vertrag die Variante des Schiedsgerichtes. Unter Verweis auf die Zivilprozessordnung hielt das Bezirksgericht Bremgarten fest, das staatliche Gericht habe seine Zuständigkeit abzulehnen, wenn die Parteien über eine schiedsfähige Streitsache eine Schiedsvereinbarung getroffen hätten. Eine solche lag aber klarerweise vor. Es konnte weiter feststellen, dass es sich bei der gegebenen Streitsache um einen Gegenstand handelte, den die Parteien einem Schiedsgericht vorlegen durften (anders als beispielsweise eine Scheidungsklage). Entgegen der Klägerin kam das Gericht auch zum Schluss, die Beklagten hätten nicht etwa dadurch auf das Schiedsgerichtsverfahren verzichtet, indem sie der Einladung zu einer Schlichtungsverhandlung vor dem Friedensrichter gefolgt waren.
Darüber hinaus hatte das Gericht zu prüfen, ob, wie von der Klägerin vorgebracht, die Schiedsabrede ungültig gewesen war. Es gelangte aber zum Schluss, dass die Schiedsklausel im Formularvertrag genügend differenziert formuliert, und dass auch das Verfahren vor dem Schiedsgericht unter Bezug der gesetzlichen Bestimmungen in der Zivilprozessordnung ausreichend geregelt sei. Das Gericht hat deshalb festgehalten, die Parteien hätten miteinander abgemacht, eine Streitsache aus ihrem Vertrag dem Schiedsgericht vorzulegen, und diese Vereinbarung sei für den strittigen Gegenstand auch zulässig, weshalb einzig das bezeichnete Schiedsgericht über die Honorarforderung der Klägerin entscheiden könne. Entsprechend ist es auf die Klage nicht eingetreten.
Eine gewisse Rolle dürfte dabei in diesem Entscheid der Umstand gespielt haben, dass die Klägerin als geschäftsgewandte Unternehmung den betreffenden Formularvertrag aus eigenem Antrieb herangezogen, selber ausgefüllt und den beklagten Bauherren zur Unterzeichnung unterbreitet hatte. In dieser Situation konnte die Klägerin nicht vorbringen, sie hätte die Konsequenzen aus dem von ihr selber erstellten Vertrag nicht absehen können.
Bezirksgericht Bremgarten, Zivilgericht, Entscheid vom 11. November 2021
Roger Seiler
r.seiler@frickerseiler.ch
Urteil des Bundesgerichts vom 16. Juni 2020
Uneinigkeit der Eltern betreffend Masernimpfung als Gefährdung des Kindeswohls
Im Ehescheidungsverfahren stellte der Vater dreier Kinder den Antrag, es sei ihm im Sinne einer Kindesschutzmassnahme zu erlauben, die unter der gemeinsamen elterlichen Sorge stehenden Kinder, entgegen der Meinung der Kindsmutter, gemäss den Richtlinien des BAG gegen Masern impfen zu lassen. Dieser Antrag wurde von den kantonalen Gerichten abgelehnt mit der Begründung, die fehlende Schutzimpfung stelle keine akute Kindeswohlgefährdung dar, weshalb eine Kindesschutzmassnahme ausgeschlossen sei. Der Vater gelangte an das Bundesgericht, das ihm recht gab.
Das Bundesgericht erwog Folgendes: Die Impfung ist offenkundig keine alltägliche oder dringliche Angelegenheit i. S. v. Art. 301 Abs. 1bis ZGB, die bei gemeinsamer elterlicher Sorge dem betreuenden Elternteil alleine zum Entscheid überlassen werden kann. Somit ist grundsätzlich eine Einigung unter den Eltern erforderlich. Für den Fall, dass eine solche Einigung nicht erzielt werden kann, sieht das Gesetz kein spezifisches Verfahren vor. Entsprechend, so das Bundesgericht, kann ein behördlicher Entscheid nur erfolgen, wenn die Meinungsdifferenz der Eltern einer Gefährdung des Kindeswohls gleichkommt, sodass die Voraussetzungen für die Anordnung einer Kindesschutzmassnahme erfüllt sind.
Eine solche Gefährdung bejaht das Bundesgericht in diesem Fall. Es hält wörtlich fest:
"Der angefochtene Entscheid beruht auf einer Fehlüberlegung, so weit die Vorinstanz aus dem Fehlen eines gesetzlichen Impfobligatoriums den Schluss zieht, dass der Verzicht auf eine Masernimpfung das Wohl der betroffenen Kinder nicht gefährdet. Allein der Umstand, dass mit Bezug auf eine übertragbare Krankheit eine Impfung nicht für obligatorisch erklärt, sondern von der eidgenössischen Gesundheitsbehörde lediglich empfohlen wird, bedeutet nicht, dass es sich auch mit dem Kindeswohl verträgt, auf die Impfung gegen die fragliche Infektionskrankheit zu verzichten."
Angesichts der Risiken einer Masernerkrankung erträgt nach Auffassung des Bundesgerichtes die Frage, ob eine Masernimpfung durchzuführen sei oder nicht, unter den Eltern keine Pattsituation. Können sich die sorgeberechtigten Eltern über die Massnahme nicht einigen, liegt ein Anwendungsfall von Art. 307 Abs. 1 ZGB vor. Dementsprechend hat die zuständige Behörde anstelle der Eltern zu entscheiden, wobei sie in pflichtgemässer Ausübung ihres Ermessens die Beurteilung des BAG als Richtschnur anzuwenden hat.
Bundesgericht, II. Zivilrechtliche Abteilung, Urteil 5A_789/2019 vom 16. Juni 2020
Kurt Fricker
k.fricker@frickerseiler.ch
Urteil des Bundesgerichts vom 6. Mai 2021
Praxisänderung der Rechtsprechung zur Beweislast der Missbräuchlichkeit
Unter gewissen Voraussetzungen hat der Mieter die Möglichkeit, die Höhe des Anfangsmietzinses anzufechten. Dies ist der Fall, wenn er sich wegen einer persönlichen oder familiären Notlage oder wegen der Verhältnisse auf dem örtlichen Markt für Wohn- und Geschäftsräume zum Vertragsabschluss gezwungen sah oder der Vermieter den Anfangsmietzins gegenüber dem früheren Mietzins für dieselbe Sache erheblich erhöht hat. Ein Mietzins ist insbesondere dann missbräuchlich, wenn damit ein übersetzter Ertrag erzielt wird. Liegt der Mietzins jedoch im Rahmen des Orts- und Quartierüblichen, ist er in der Regel nicht missbräuchlich. Die Orts- und Quartierüblichkeit ist entweder über eine offizielle Statistik oder anhand von fünf Vergleichsobjekten zu prüfen. In einem zur amtlichen Publikation vorgesehen Entscheid vom 6. Mai 2021 befasste sich das Bundesgericht nun mit der Frage, welche Partei bei der Prüfung der Orts- und Quartierüblichkeit was beweisen muss.
Wird der Anfangsmietzins vom Mieter angefochten, so hat dieser die Missbräuchlichkeit zu beweisen. Neu hält das Bundesgericht nun aber ausdrücklich fest, dass in bestimmten Fällen, zugunsten des Mieters von einer Vermutung der Missbräuchlichkeit des Mietzinses auszugehen ist. Konkret ist dies der Fall, wenn der Vermieter den Mietzins um deutlich mehr als 10 Prozent erhöht hat. Im zu beurteilenden Fall erhöhte der Vermieter den Mietzins um 44%, weshalb das Bundesgericht die Vermutung der Missbräuchlichkeit bejahte.
Diese Vermutung kann vom Vermieter jedoch umgestossen werden, wenn er Indizien ins Feld führt, die begründeten Zweifel an der Missbräuchlichkeit wecken. Gemäss Bundesgericht ist es denkbar, dass der Vermieter dazu auf inoffizielle Statistiken verweist oder Wohnungen aufführt, welche die Anforderungen bezüglich Vergleichbarkeit nicht vollständig erfüllen. Auch ein vom Vermieter in Auftrag gegebenes Privatgutachten kann geeignet sein, um die Vermutung der Missbräuchlichkeit zu erschüttern. Weiter spielt es gemäss Bundesgericht eine wichtige Rolle, wie lange das vorherige Mietverhältnis gedauert hat, und ob während diesem Mietverhältnis die Miete erhöht wurde. Diesbezüglich hielt das Bundesgericht nun erstmals überhaupt Folgendes fest: Hat das Vormietverhältnis lange, das heisst fünfzehn bis zwanzig Jahre, gedauert, und wurde die Miete in dieser Zeit nie erhöht, kann dies gegen die Vermutung eines missbräuchlichen Anfangsmietzinses sprechen.
Wenn es dem Mieter – wie im zu beurteilenden Fall – gelingt, die Vermutung der Missbräuchlichkeit zu entkräften, so fällt diese weg. Dies bedeutet, dass nun der Mieter anhand einer amtlichen Statistik oder mit fünf Vergleichswohnungen den Beweis zu erbringen hat, dass die Erhöhung tatsächlich missbräuchlich war.
Bundesgericht, I. zivilrechtliche Abteilung, Urteil 4A_183/2020 vom 6. Mai 2021
Matthias Fricker
m.fricker@frickerseiler.ch
Urteil des Bundesgerichts vom 22. Oktober 2020
Ferien und Freistellung
Nach der Kündigung eines Arbeitsvertrages passiert es regelmässig, dass der Arbeitnehmer für die Kündigungsfrist freigestellt wird. Der Arbeitnehmer ist somit nicht mehr verpflichtet, seine Arbeitstätigkeit zu leisten, bezieht indes bis zum Ende der Kündigungsfrist den normalen Lohn. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob ein noch offenes Ferienguthaben mit der Freistellungszeit «verrechnet» werden darf. Hiermit hat sich das Bundesgericht in einem Entscheid vom vergangenen Oktober befasst (4A_381/2020).
Dem Entscheid liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Nachdem ein Autolackierer über 17 Jahre in einem Karosseriebetrieb angestellt war, wurde ihm – nach einer längeren unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit – am 21.10.2016 per 31.1.2017 gekündigt. Zudem wurde er per 1.12.2016 von der Arbeit freigestellt. Neben offenen Überstunden waren auch noch nicht bezogene Ferien Gegenstand des Gerichtsverfahrens. In diesem Zusammenhang hielt das Bundesgericht fest, dass Ferien während des Arbeitsverhältnisses nicht mit Geld abgegolten werden dürfen. Komme es nach einer Kündigung zu einer Freistellung, könne der Arbeitgeber jedoch den Bezug der ausstehenden Ferientage fordern; vorausgesetzt, die Kündigungsfrist ist im Verhältnis zu den offenen Ferien ausreichend lang, um dem Arbeitnehmer die Suche nach einer neuen Stelle zu ermöglichen. Massgebend bei dieser Beurteilung sind stets die Umstände des Einzelfalls. In anderen Fällen schützte das Bundesgericht den Bezug von 13 Ferientagen während einer Freistellungsdauer von 35 Tagen, oder den Bezug von 40 Ferientagen während eines Zeitraums von vier Monaten. Im vorliegenden Fall erachtete das Bundesgericht den Bezug von 35 Ferientagen bei einer Kündigungsfrist von 75 Arbeitstagen als zulässig. Relevant war insbesondere, dass sich der Arbeitnehmer weigerte, an IV-Massnahmen mitzuwirken, womit er zu erkennen gab, die «arbeitsfreie» Zeit nicht zur Stellensuche bzw. Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess genutzt zu haben.
Bundesgericht, I. zivilrechtliche Abteilung, Urteil 4A_318/2020 vom 22. Oktober 2020
Samuel Egli
s.egli@frickerseiler.ch
Urteil des Bundesgerichts vom 9. April 2019
Ein Apfel ist nicht immer eine Frucht
Als die Apple Inc. mit Sitz in Cupertino, Vereinigte Staaten, das Eidgenössische Amt für Geistiges Eigentum im Jahre 2013 erstmals darum ersuchte, das Zeichen «APPLE» zum Markenschutz für Spielzeug und Schmuckwaren zuzulassen, stiess sie auf Unverständnis. Apple sei auf Deutsch mit «Apfel» zu übersetzen und gelte deshalb als Gemeingut, das nicht geschützt werden könne. Die Konsumenten würden den Begriff «APPLE» primär als Hinweis auf die Ausstattung oder den thematischen Inhalt der Spielsachen und Schmuckwaren auffassen. Gerade bei Schmuck und Spielsachen sei es nicht unüblich, dass diese die Form oder das Motiv eines Apfels aufwiesen.
Dem widersprach das Schweizerische Bundesgericht mit Urteil vom 9. April 2019 (BGE 145 III 178; 4A_503/2018). Aufgrund des ausserordentlich grossen, weltweiten Bekanntheitsgrades der Marke «APPLE», würde dieser Begriff vom Durchschnittskonsumenten – trotz entsprechender Kenntnisse der englischen Sprache - nicht primär im Sinne der Frucht «Apfel» verstanden, sondern als Hinweis auf das Unternehmen mit dem Namen «APPLE». Der Markenschutz ist damit in der Schweiz auch für Spielzeug und Schmuckwaren von «APPLE» zu gewähren.
Bundesgericht, I. zivilrechtliche Abteilung, Urteil 4A_503/2018 vom 9. April 2019
Karin Koch Wick
k.koch@frickerseiler.ch