Urteil des Bundesgerichts vom 7. Oktober 2019

Big Brother is watching you

In einem Urteil vom 7. Oktober 2019 hatte sich das Bundesgericht mit der automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV) zu befassen. Bei der mobilen oder stationären AFV wird anhand des mittels Kamera erfassten Fahrzeugs ein Datensatz mit den Buchstaben und Ziffern des Kontrollschilds erzeugt und dieser anschliessend automatisch mit anderen Datensätzen abgeglichen. Diese Methode ermöglicht somit – im Unterschied zur Kontrollschilderhebung durch eine Polizeipatrouille die massenhafte und praktisch unbegrenzte Erhebung von Daten, was eine erhebliche Erhöhung der polizeilichen Überwachungs- bzw. Fahndungsidentität zur Folge hat. Gemäss dem von der Schweizerischen Polizeitechnischen Kommission erstellten "Gesamtkonzept AFV" aus dem Jahr 2015 arbeitet das AFV mit einem sogenannten ""hit/no hit-Verfahren". Dies beutet, dass ausschliesslich "Treffer" weiterverwendet werden. Dabei umfasst der vom AFV erzeugte Datensatz den "Treffer" samt Zeitpunkt, Kamerastandort und Fahrzeugnummer sowie den Grund, weshalb das erfasste Fahrzeug zur Fahndung ausgeschrieben ist. 

Dem Urteil des Bundesgerichts vom 7. Oktober 2019 lag folgender Sachverhalt zu Grunde: 

Der Beschuldigte lenkte zwischen Oktober und Dezember 2016 im Kanton Thurgau dreimal einen Personenwagen, obschon im zuvor am 23. September 2016 der Führerausweis entzogen wurde. Auf die Schliche kam die Strafverfolgungsbehörde dem Beschuldigten aber nicht etwa, weil dieser in eine Polizeikontrolle geriet, sondern durch die AFV, welche ihn, bzw. sein Fahrzeug dreimal beim Autofahren erwischt hat. Nachdem dem Beschuldigten die Aufzeichnungen der AFV von der Polizei vorgehalten wurden, räumte er die entsprechenden Fahrten ein. In der Folge stellte sich der Beschuldigte dann jedoch auf den Standpunkt, er sei durch die gegen ihn eingesetzte AFV in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäss Art. 13 Abs. 2 der Bundesverfassung (BV) verletzt worden. Weiter sei der vorliegende Eingriff mangels gesetzlicher Grundlage nicht zulässig gewesen, da im Kanton Thurgau keine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage für eine AFV bestehe. Sein Geständnis sei lediglich auf Grund der im vorgelegten Resultate der unrechtmässig eingesetzten AFV erfolgt, weshalb es als unzulässiger Folgebeweis ebenfalls nicht verwertbar sei.

In erster Instanz wurde der Beschuldigte freigesprochen. Die gegen dieses Urteil von der Staatsanwaltschaft erhobene Berufung hiess das Obergericht Thurgau gut. Dagegen führte nun der Beschuldigte Beschwerde beim Bundesgericht. 

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde des Beschuldigten gut. In seiner Begründung äusserte sich das Bundesgericht zuerst zu den allgemeinen Voraussetzung zur Einschränkung von Grundrechten. Es führt aus, Art. 13 BV schütze die verschiedensten Aspekte umfassende Privatsphäre mit ihren spezifischen Bedrohungsformen. Nach Abs. 2 von Art. 13 gehöre dazu im Besonderen der Schutz vor Missbrauch persönlicher Daten. Dieses Recht auf informationelle Selbstbestimmung garantiere, dass grundsätzlich ohne Rücksicht darauf, wie sensibel die fraglichen Informationen tatsächlich sind, jede Person gegenüber fremder, staatlicher oder privater Bearbeitung von sie betreffenden Informationen bestimmen können muss, ob und zu welchem Zweck diese Informationen bearbeitet werden. Daran ändere auch nichts, dass die Daten – wie bei der AFV - auf öffentlichen Strassen aufgezeichnet werden, da sich der Schutz der Privatsphäre nicht auf private Räumlichkeiten beschränke. Jedoch könne die informationelle Selbstbestimmung – wie andere Grundrechte auch – eingeschränkt werden. Solche Einschränkungen würden jedoch einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, müssten im öffentlichen Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein und müssten sich auch als verhältnismässig erweisen. Schwere Eingriffe in Grundrechte würden einer klaren und ausdrücklichen Regelung in einem formellen Gesetz bedürfen und genügend bestimmt sein. 

Zum konkreten Fall führte das Bundesgericht aus, bei der AFV werde mehr in Erfahrung gebracht als das blosse Kontrollschild bzw. die Identität des Halters. Erfasst würden auch Zeitpunkt, Standort, Fahrtrichtung sowie die (weiteren) Fahrzeuginsassen. Auch beschränke sich die AFV nicht auf eine blosse Erhebung und Aufbewahrung von erkennungsdienstlichen Informationen. Vielmehr würden diese mit anderen Datensammlungen zusammengeführt und automatisch abgeglichen. Auch zeige die AFV eine abschreckende Wirkung und könne mit einem Gefühl der Überwachung einhergehen, welches die Selbstbestimmung wesentlich hemmen könne (sog. "chilling effect"). Auch bestehe bei der Überwachung die Gefahr, dass Betroffene zu Unrecht in Verdacht geraten würden. So seien im Kanton Thurgau in den ersten Monaten nach Inbetriebnahme 829'444 Kontrollschilder erfasst worden. Dabei hätten 3'262 Treffer resultiert, die aufgrund verschiedener Fehlerquellen (z.B. Falschinterpretationen, Fremdlenker usw.). hätten bereinigt werden müssen. Letztlich hätten 166 Fälle zu "Polizeiaktionen" geführt. Damit liege eine erhebliche Fehlerquote vor, was unterstreiche, dass bei der AFV nicht von einem leichten, sondern von einer schweren Eingriff in die Grundrechte auszugehen sei. 

Im Kanton Thurgau beruhe die AFV auf dem kantonalen Polizeigesetz. Dieses bilde jedoch keine hinreichende gesetzliche Grundlage für den Einsatz der AFV. Für einen effektiven Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sei nämlich insbesondere erforderlich, dass der Verwendungszweck, der Umfang der Erhebung sowie die Aufbewahrung und Löschung der Daten hinreichend bestimmt seien. Diese Kriterien erfülle das Polizeigesetz des Kantons Thurgau nicht. So sei für die Strassenverkehrsteilnehmer etwa nicht voraussehbar, welche Informationen gesammelt, aufbewahrt und mit anderen Datenbanken abgeglichen würden. Auch die Aufbewahrung und die Vernichtung der Daten seien im Polizeigesetz nicht ausreichend geregelt. Bestehe kein Bedarf für eine Weiterverwendung, seien die Daten grundsätzlich unverzüglich zu löschen. Dem Polizeigesetz lasse sich mit Bezug auf die AFV hingegen keine Pflicht zur unverzüglichen und spurlosen Löschung für den Fall, dass kein Treffer vorliege, entnehmen. Im Gegenteil: Erlaubt sei vielmehr eine unbegrenzte Datensammlung auf Vorrat. 

Im Ergebnis gelangte das Bundesgericht zum Schluss, die Aufzeichnungen der AFV seien im konkreten Fall unrechtmässig erhoben worden. Unrechtmässig erhobene Beweise seien gemäss Schweizerischer Strafprozessordnung nur dann als Beweise zulässig, wenn sie zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich wären. Beim Fahren ohne Berechtigung, welches dem Beschuldigten zum Vorwurf gemacht werde, handle es sich um keine schwere Straftat, sondern um ein Vergehen. Somit seien die Aufzeichnungen der AFV (und als Folge davon wohl auch die gestützt auf die Auswertung gemachten Aussagen des Beschuldigten) nicht verwertbar.

Bundesgericht strafrechtliche Abteilung, Urteil 6B_908/2018 vom 7.Oktober 2019

Matthias Fricker
m.fricker@frickerseiler.ch