Urteil des Bundesgerichts vom 5. März 2019
Ohne Rücksicht auf Verluste
Der Fussballbetrieb ruht zurzeit; dies bietet Gelegenheit, auf ein Fussballspiel aus dem Jahr 2016 zurückzuschauen, welches das Bundesgericht im März 2019 beschäftigte. Dem Entscheid liegt nachfolgender Sachverhalt eines Amateurspiels einer Juniorenliga zugrunde:
Man schrieb die 15. Spielminute, als der Beschwerdeführer zum Tackling ansetzte. Er hielt sein Bein gestreckt, etwa 10 bis 15 Zentimeter über Boden und traf seinen Gegenspieler am rechten Fussknöchel. Der Gegenspieler erlitt einen Knöchelbruch, der eine Operation erforderte, wobei u.a. eine Metallplatte eingesetzt wurde.
Der Schiedsrichter taxierte das Tackling als «hartes Spiel» und zeigte dem Beschwerdeführer die Gelbe Karte. In der zweiten Halbzeit erhielt der Beschwerdeführer eine zweite Gelbe Karte – erneut wegen «harten Spiels», worauf er des Feldes verwiesen wurde.
Da der Gefoulte Strafanzeige erstattete, hatten sich in der Folge die Strafbehörden mit dem Tackling zu befassen. Zur Beurteilung stand, ob sich der Beschwerdeführer der fahrlässigen Körperverletzung nach Art. 125 StGB schuldig gemacht hatte. Der erstinstanzliche Polizeirichter bejahrte dies und verurteilte den Beschwerdeführer zu 40 Stunden gemeinnütziger Arbeit. Dieses Urteil wurde vom zweitinstanzlichen Kantonsgericht geschützt.
In seinem Entscheid erinnerte das Bundesgericht erst an die Erfordernisse der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. So handelt fahrlässig, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet wäre. Es stellt sich folglich die Frage, ob ein vernünftiger Dritter in der gleichen Situation und mit denselben Fähigkeiten wie der Täter den Geschehensablauf hätte voraussehen können und welche Massnahmen er hätte treffen können, um den Verletzungseintritt abzuwenden. Bestehen spezifisch zur Unfallvorbeugung erlassene Regeln, deutet deren Verletzung auf eine Missachtung der strafrechtlichen Sorgfaltspflicht hin.
Für die strafrechtliche Prüfung von Körperverletzungen, die bei sportlichen Wettkämpfen geschehen, sind die die anwendbaren Spielregeln und der allgemeine Grundsatz «neminem laedere» («Du sollst niemanden schädigen») zu berücksichtigen: Solange sich ein Spieler im Rahmen der allgemeinen Regeln bewegt, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass dennoch eintretende Verletzungen vom Geschädigten als allgemeines Spielrisiko hingenommen werden und folglich nicht sorgfaltswidrig sind.
Im vorliegenden Fall hatte sich das Bundesgericht daher mit den Spielregeln des «International Football Association Board» auseinanderzusetzen. In Regel 12 werden das «Verbotene Spiel und unsportliches Betragen» thematisiert, wonach ein Spieler zu verwarnen ist, wenn er fahrlässig ein mit einem direkten Freistoss sanktionierendes Foul begeht. Dies ist immer dann der Fall, wenn der Spieler aus Versehen, fahrlässig oder mit Gewalt einen Gegenspieler angreift oder ihm den Ball streitig macht. Bei den beiden letzteren Verhaltensweisen ist die Verwarnung Pflicht. Gefährdet der Spieler überdies die körperliche Gesundheit des Gegenspielers oder handelt er gewalttätig oder brutal, erfolgt ein direkter Platzverweis (gefährliches Spiel).
Da der Schiedsrichter nur die Gelbe Karte gezeigt hat, kam die zweite Instanz zum Schluss, dass der Beschwerdeführer zwar die Spielregeln verletzt habe, aber nichts darauf hinweise, er habe den Gegenspieler verletzen wollen. Das Tackling wurde damit als fahrlässig im Sinne von Art. 125 StGB taxiert – und nicht als vorsätzliche Körperverletzung.
Vor Bundesgericht blieb die Frage zu klären, ob die Spielregelverletzung ausreichend schwer war, um das (stillschweigende) Einverständnis des Verletzten in das allgemeine Körperverletzungsrisiko beim Fussballspielen auszuschliessen. Dabei stellte das Bundesgericht fest, dass das Tackling die zum Schutz der Mitspieler aufgestellten Spielregeln schwerwiegend verletzte. Ob das Foul mit einer Gelben Karte oder mit einem Platzverweis geahndet werde, sei für die strafrechtliche Beurteilung indes nicht entscheidend. In Anbetracht der Spielregeln und des genannten Grundsatzes, dass niemanden den anderen schädigen soll, bestätigte das Bundesgericht schliesslich den Schuldspruch der fahrlässigen Körperverletzung. Der Beschwerdeführer habe seine Sorgfaltspflicht schuldhaft verletzt, da er das Tackling ohne Rücksicht auf Verluste begangen habe.
Bundesgericht strafrechtliche Abteilung, Urteil BGE 145 IV 154 vom 5. März 2019
(= Pra 108 [2019] Nr. 139).
Samuel Egli
s.egli@frickerseiler.ch